Ödön von Horváths Roman „Jugend ohne Gott“ ist ein zeitloses Werk, das die Gefahren von Radikalisierung und autoritären Strukturen beleuchtet. Regisseur Tobias Schilling inszeniert den Stoff momentan im TiF – Theater im Fridericianum und verwebt ihn mit aktuellen Fragen und Perspektiven von Jugendlichen. Premiere war am Freitag, 14. Februar. Mia Westerkamp (FSJ-lerin in der Abteilung Kommunikation) traf Tobias Schilling sowie die Schauspieler:innen Christina Weiser, Philipp Staschull, Clemens Dönicke und Justin Hibbeler vorab zum Interview und besuchte eine Bühnenprobe.

Ein brisantes Generationenporträt

Der Roman „Jugend ohne Gott“ machte den österreichisch-ungarischen Dramatiker Ödön von Horváth international berühmt und galt außerhalb Deutschlands rasch als Roman der Stunde. Im Land selbst war er ebenso schnell verboten. Mit Blick auf die aktuelle politische Lage verwandelt Regisseur Tobias Schilling den Schlüsselroman von 1937 in ein brisantes Generationenporträt. „Jugend ohne Gott“ ist ein Stück, das zum Nachdenken anregt. Wie „tickt“ also die junge Generation heute? Was treibt sie um? Was sind ihre Gedanken, Ängste und Wünsche die Zukunft betreffend? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, lässt Tobias Schilling in „Jugend ohne Gott“ Kasseler Jugendliche in O-Tönen zu Wort kommen.

Mia Westerkamp hat ihn zum Interview getroffen:

Wie bist Du auf das Stück gekommen und warum interessiert Dich der Roman?

Tobias Schilling: „Horváth begleitet mich schon einige Zeit. Auch in der Corona-Zeit war ich kurz davor, eine Inszenierung von Horváths Stück „Italienische Nacht“ zu machen. Das Projekt ist dann leider coronabedingt eingebrochen. Aber seitdem lebt Horváth in meinem Kopf. Als ich mit der Schauspieldirektorin über das Thema des Stückes ins Gespräch kam, fiel zuerst der Begriff der 'Radikalisierung Jugendlicher' und wie es Jugendlichen in den brisanten Zeiten, in denen wir uns gerade befinden, so geht. Daher war mir auch schnell klar, dass ich etwas aus der Perspektive von Jugendlichen machen möchte. In den Vorschlägen für ein Stück war dann auch „Jugend ohne Gott“, woraufhin ich den Roman noch einmal gelesen und festgestellt habe, dass er viele wichtige Punkte enthält, die sich sehr gut mit dem decken, was wir heutzutage erzählen sollten.“

Welchen Bezug hat das Stück auf die heutige Zeit?

Tobias Schilling: „Also, natürlich gibt es viele Parallelen. Wir haben ja auch gesehen, dass nach der Europawahl der Diskurs aufkam, dass alle Jugendlichen rechts wären, was natürlich eine polemische Aussage ist. Es geht eher darum, wie sich Jugendliche an politische Veränderungen und Unsicherheiten anpassen. Und in „Jugend ohne Gott“ wird der nächste Schritt erzählt, wenn wir uns bereits in einer sehr rechten Regierung befinden. Es wurde ja auch immer gesagt, dass man nicht alle Rechten Nazis nennen soll, weil es ja auch viele Menschen gibt, die die AfD aus sehr vielen verschiedenen Gründen wählen. Aber was passiert, wenn man solche Parteien wählt, ist, dass man akzeptiert oder auch toleriert, welche Maßnahmen durch diese umgesetzt werden. Für mich war dann die Frage in Bezug auf „Jugend ohne Gott“, wie sich eine Jugend in solchen Zeiten verhält. Der verbindende Punkt zwischen Horváth und der heutigen Zeit war diese gewisse Empathielosigkeit, die wir alle irgendwo haben, durch die schlimmen Ereignisse, von denen wir tagtäglich mitbekommen. Außerdem habe ich mich auch in dem Konflikt, den der Lehrer hat, wiedergesehen, weil ich auch häufig diese Hilflosigkeit und Enttäuschung in meinem Umfeld habe, im Sinne von: Warum wählt ihr so? Warum wählt ihr gegen eure eigenen Interessen? Versteht ihr überhaupt, was ihr da tut? Diese Gedanken, die ich habe, spiegeln sich auch wider in dem, was der Lehrer gegenüber seinen Schülern denkt."

Welche Erkenntnisse hast Du aus den Umfragen an den Schulen gezogen? Welche Reaktionen hattest Du darauf?

Tobias Schilling: „Ich war genauso überrascht wie nicht überrascht. Ich hatte schon bemerkt, dass das politische Spektrum in der Gesellschaft weiter rechts angefangen hat, aber auch, dass die Bereitschaft, sich als rechts zu outen, stärker war als beispielsweise in meiner Schulzeit. Interessant fand ich auch, dass es klar ausgesprochen wurde, wenn man unzufrieden mit der Migrationspolitik ist und sich da einen stärkeren Kurswechsel wünscht. Auf der anderen Seite war ich aber auch positiv überrascht, wie politisch interessiert manche Jugendliche waren und wie klar sie ihre politischen Gedanken formulieren konnten. Auch, dass sie die Wahrnehmung hatten, dass es echte Probleme auf dieser Welt gibt, die sich nicht dadurch lösen lassen, dass man desinteressiert ist.“

Ein Spiegel der Gesellschaft

In einer Zeit, die von politischen Spannungen und gesellschaftlicher Polarisierung geprägt ist, erinnert das Stück an die Gefahren von Radikalisierung und autoritären Strukturen und zeigt, wie schnell sich eine Gesellschaft verändern kann.

Dabei geht es Horváth nicht nur um eine verrohte Jugend, die die Ideen des Nationalsozialismus verinnerlicht hat, sondern auch um einen zutiefst verunsicherten Lehrer, dem seine Werte unter dem Druck von Alltag und Anpassung zunehmend abhandengekommen sind: Beim Lesen der Klassenarbeiten wird ein Lehrer mit einer rassistischen Bemerkung konfrontiert, die seinen humanistischen Überzeugungen widerspricht. Er streicht sie an und bekommt es nicht nur mit dem Vater des Schülers, sondern mit seiner ganzen Klasse zu tun: Sie bitten um seine Suspendierung und unterstellen ihm eine staatsfeindliche Gesinnung. Der Lehrer und seine Schüler, die Jugend, die während eines Zeltlagers vom herrschenden Regime spielerisch auf den nächsten Krieg vorbereitet wird, entfremden sich zunehmend voneinander. Doch dann geschieht ein Mord an einem der Schüler – und die Suche nach dem Mörder beginnt…

Mia Westerkamp traf die Schauspieler:innen Christina Weiser, Philipp Staschull, Clemens Dönicke und Justin Hibbeler zum Interview:

Mit welcher Figur aus dem Stück kannst Du Dich am ehesten identifizieren?

Christina Weiser (Julius Cesar): „Die Hauptfigur, die ich spiele ist Julius Cesar, er ist ein Freund und später das leibhaftige Gewissen des Lehrers. Er hinterfragt sein Tun und bringt ihn dazu moralisch zu handeln. Er ist der Wahrheit verpflichtet.“

Phillip Staschull (Schüler Z): „Also, Identifikation finde ich tatsächlich schwierig bei den Figuren im Stück. Ich kann einiges nachvollziehen, aber ich kann jetzt nicht sagen: mit der Figur identifiziere ich mich zu 100%. Ich kann zum Beispiel nachvollziehen, dass bei dieser Gruppendynamik diese Angst herrscht, dass man auch selber unter die Räder kommt oder dass diese Dynamik entsteht auf den Schwächsten zu gehen, damit es einen selbst nicht trifft.“

Clemens Dönicke (Lehrer): „Wenn ich ein Stück anfange zu proben, mache ich mir eigentlich erst einmal keine Gedanken darüber, mit welcher Figur ich mich am meisten identifizieren kann, im Sinne von: Wen finde ich am sympathischsten? Ich spiele eine Rolle und versuche, innerhalb der Rolle Dinge zu entdecken, die mich auch im gesellschaftlichen Kontext interessieren, also insbesondere wie bei so einem Stück wie 'Jugend ohne Gott'. Ich denke, es ist keine Frage der Identifikation, sondern dass es darum geht, seine Rolle zu entdecken und zu ergründen.“

Justin Hibbeler (Schüler N): „Also am ehesten kann ich mich glaube ich mit dem Lehrer identifizieren, weil die Schülerschaft eine sehr radikalisierte geschlossene Gruppe ist. Während der Lehrer die Figur ist, die sich auch wirklich Fragen stellt, die auch für uns heutzutage relevant sind. Wie setzte ich mich ins Verhältnis, wenn die Regeln und die Schranken zunehmend enger werden? Wie verhalte ich mich demokratisch in einem zunehmend antidemokratischen Feld?“

Hast Du den Roman vorher gelesen, um das Stück besser zu verstehen?

Christina Weiser (Julius Cesar): „Doch man sollte ihn lesen …Ich habe den Roman natürlich und sogar mehrfach gelesen. Sehr zu empfehlen!“

Philipp Staschull (Schüler Z): „Ja genau, den Roman habe ich gelesen. Das hilft natürlich immer, um die Figur, aber auch die Handlung besser zu verstehen, aber auch, um ein Gefühl für das Stück zu bekommen und dafür, was man dann auf der Bühne vielleicht auch umsetzen möchte."

Clemens Dönicke (Lehrer): „Ja, ich lese den Roman immer noch zwischendurch immer mal, weil wir meistens nur bestimmte Szenen proben und weil wir auch mit einer anderen Erzählweise an den Roman herangehen als auf der Bühne. Um auch zu verstehen, wie eine Szene in der Prosa gemeint ist, weil sich Dramatik und Prosa grundlegend unterscheiden.“

Justin Hibbeler (Schüler N): „Ich habe das Buch vorher gelesen und das Hörbuch angehört, einfach weil es mich auch sehr interessiert hat, aber auch weil das Buch nicht lang war. Aber es hilft einem immer in Proben das Ganze besser zu verstehen.“

Wie nimmst Du Deine gesellschaftspolitische Rolle als Schauspieler:in in Bezug auf die aktuellen rechten Tendenzen in der Gesellschaft und auch in Bezug auf Jugendliche wahr?

Christina Weiser (Julius Cesar): „Für mich ist das Theater kein Ort der Belehrung, auch nicht für Jugendliche. Sondern ein Ort, an dem Geschichten erzählt werden, so wahrhaftig wie möglich, und an dem ich nicht immer mit mir einer Meinung sein muss. Und was die Rechten angeht: die Freiheit der Kunst gilt es ohne Wenn und Aber zu schützen.“

Phillip Staschull (Schüler Z): „Ich glaube es ist wichtig, dass sich das Theater damit (den aktuellen rechten Tendenzen) intensiv auseinandersetzt. Ich finde es toll, dass sich dann Menschen das Stück ansehen, auch gerade junge Menschen, die man dann zum Nachdenken anregen kann.“

Clemens Dönicke (Lehrer): „In der derzeitigen Debatte finde ich es, abgesehen davon, dass man sich natürlich von bestimmten Denkweisen sofort abkehren und auch Geschehnisse in unserem Land, was rechte Tendenzen angeht, verurteilen muss, wichtig, dass wir uns mit solchen Themen auseinandersetzen, weil ich auch in der derzeitigen Diskussion die Auseinandersetzung mit Inhalten vermisse und ich nicht glaube, dass wir durch Polarisierung der Probleme in unserer Gesellschaft Herr dieser werden. Und da ist das Theater auch ein gutes Medium, um sich inhaltlich differenziert damit auseinanderzusetzen.“

Justin Hibbeler (Schüler N): „Ich sehe das Theater in einer wichtigen Rolle in der Gesellschaft auch ein Ort für Demokratie und Vielfalt zu sein und keine Diskurse einzuengen, sondern sie breit zu halten und zu ermöglichen. In diesem Feld bin ich natürlich auch ein Akteur, aber ich als einzelner Schauspieler sehe mich eigentlich nur als Multiplikator von demokratischen Ideen. Nie wieder ist jetzt!

Das Zeitalter der Fische

Mia Westerkamp besuchte eine Bühnenprobe am 25. Februar:

Es ist dunkel im Zuschauerraum, nur die Bühne ist atmosphärisch beleuchtet. Auf der Bühne stehen Kästen, die Aquarien darstellen sollen. Dahinter ist Glas, das durchsichtig ist, aber auf Knopfdruck milchig bzw. undurchsichtig gemacht werden kann, wodurch die Menschen, die dahinterstehen, manchmal verschwinden.

Die in weißer und steril wirkender Kleidung gehüllten Schüler machen Blubbergeräusche wie Fische und bewegen sich in einer Gruppe, was wie fremdgesteuert wirkt. Damit geben sie schon einen kleinen Ausblick auf das von Horváth genannte „Zeitalter der Fische“. Auch im Hintergrund sind Wasser- und Blubbergeräusche zu hören. Teilweise ist ein Wechsel zwischen der „normalen“ Welt und der Unterwasserwelt zu erkennen; dafür werden Stühle und Kästen verschoben, um neue Orte zu schaffen.

Die Schüler reden und singen oft laut im Chor. Es wirkt bestimmend, scharf und einschüchternd. Im Gegensatz dazu wirkt der Lehrer einsam und unsicher. Immer wieder redet ihm sein Gewissen in Form von Julius Caesar in seine Gedanken hinein.

Manchmal ist im Hintergrund, projiziert auf Glas, ein Zusammenschnitt der Schüleraussagen über ihre politischen Gedanken zu sehen. Es wirkt wie das Verbindungsglied zwischen den radikalen Schülern aus dem Stück und den Schülern heutzutage.

„Jugend ohne Gott“ ist ein Stück, das uns alle betrifft. Es ist ein Stück über die Frage, wie wir als Gesellschaft mit unseren Werten umgehen und wie wir die Herausforderungen unserer Zeit meistern gestalten. Das Stück ist nicht nur für junge Menschen relevant, sondern für alle, die sich für die Zukunft unserer Gesellschaft interessieren.

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