„Ich plädiere für einen Zustand des Uneins-Seins“

Marcus, dein Stück Patient Zero 1 basiert auf deiner fundierten Recherche mit HIV-Betroffenen aus verschiedenen Generationen, welche Geschichten von Betroffenen haben den Weg in dein Stück gefunden?

Marcus Peter Tesch: Das stimmt, mein Schreibprozess war – vor allem am Anfang – begleitet von einigen sehr intimen Gesprächen und einer recht umfassenden Recherche zum Aids-Topos. Aber das klingt jetzt beinahe so, als wäre Patient Zero 1 ein Dokumentartheater-Stück oder sowas ähnliches … Das ist es aber nicht: Tatsächlich ist es so, dass keine der Geschichten, die mir erzählt wurden, direkt so im Stück stehen. Und doch würde ich behaupten, die kommen alle in ihrem Anliegen vor. Ohne diese Geschichten wäre es unmöglich gewesen, dieses Stück zu schreiben. Das liegt einerseits daran, dass mich diese dokumentarische Form künstlerisch wenig interessiert, ich will eher in die Übersetzung von Wirklichkeit als in ihre Dokumentation. Andererseits ist es so: Jede:r meiner Gesprächspartner:innen hätte eigentlich ein eigenes Stück verdient, mindestens.

Gerade wenn man mit Menschen redet, die noch die 1980er und 1990er erlebt (oder überlebt) haben, sind das ungeheuerliche Erfahrungen von Diskriminierung und Stigmatisierung. Da gibt es immer noch so eine Wut, eine tiefe Enttäuschung. Ich erinnere mich zum Beispiel an Noé, der heute um die 60 ist: Der war von Anfang an sehr transparent in seinem Umfeld mit seiner Erkrankung, die damals noch einem Todesurteil gleichkam.

Als rauskam, dass er und sein Partner sich Ende der 1980er mit HIV infiziert hatten, wurde ihm sein Job in einer Werft gekündigt, die Familie hat den Kontakt abgebrochen, auch viele Bekannte wollten nichts mehr mit ihnen zu tun haben. Sein Partner ist sehr schnell an AIDS gestorben, er selber hatte unglaubliches Glück. Warum, versteht er bis heute nicht, so ging es ja vielen. Der ist dann ausgewandert, hat nochmal komplett neu angefangen und was ganz anderes gemacht, studiert und dann lange an der Uni unterrichtet. So eine Geschichte darf man eigentlich nicht einfach in einen Satz packen, das wird dem Leben, was dahintersteckt, nicht gerecht … Zugleich Geschichten von jüngeren HIV-positiven Menschen heute, die nie diese krasse Erfahrung von Diskriminierung gemacht haben. Und dennoch eine riesige Angst davor hatten, sich zu outen. Mich hat dann irgendwann vielmehr interessiert: Woher kam diese Angst? Wo fängt die an – bei den Betroffenen, aber auch in der Gesellschaft? Und das hat vor allem mit der Sprache zu tun, damit wie wir über eine Erkrankung sprechen, in der Öffentlichkeit und im Privaten, und zugleich Stereotypen konstruiert. Das wollte ich im Text erzählen, denn das verbindet die Einzelschicksale irgendwie für mich. Ich habe mir angeschaut, was alles an – ich möchte sagen Un-Worten – über die HIV-Pandemie in der Welt war und bis heute ist. Und fragte mich: Wie kann ich diesen Un-Worten heute begegnen? Wie ihnen eine Bühne geben, sie vorführen, unterlaufen, sabotieren, womöglich sogar transformieren? Und für mich gab es da eigentlich nur die Möglichkeit dies in einen lyrischen-dramatischen Text zu übersetzen.

Zugleich ist Patient Zero 1 aber auch die Geschichte einer anderen Pandemie, der Corona-Pandemie. Das würden wir ja alle gern wieder vergessen. Und da hat mich doch interessiert, wie plötzlich, während einer Situation, die vorher absolut unvorstellbar war – ein Lockdown auf allen gesellschaftlichen Ebenen – wie sich da das Sprechen über die eigenen Befindlichkeiten und Empfindungen, über das eigene Begehren aber auch über die Erfahrung von Krankheit – egal ob Corona, Depression, HIV, Sucht oder Reflux – krass änderte. Wir waren ja irgendwie alle ständig krank. Oder einsam. Oder horny. Und darin auch wieder irgendwie verbunden miteinander. Obwohl die meisten so isoliert waren, wie selten zuvor in ihrem Leben … Ich zum Beispiel wäre in dieser Zeit ohne meinen Freundeskreis am Arsch gewesen. Was ich während der Pandemie erlebt habe an ganz Profanem – in einer Zeit, die ja doch eine existentielle und bedrohliche Erfahrung war, ist erstaunlich. Wie wir da so schamlos miteinander oder aneinander vorbeigeredet haben. Wir sind alle während Corona zu merkwürdigen Comicfiguren geworden: Jede:r für sich in den eigenen vier Wänden im eigenen Film und dauerhaft vor Bildschirmen sitzend.

Mehr Reality-TV geht eigentlich nicht. Jedenfalls habe ich mich oft so gefühlt. Gleichzeitig fragte ich mich: Sag ich oder diese Person, mit der ich gerade reden, einen Text aus einem Podcast, den Nachrichten oder einer Netflix-Serie auf? Oder mein ich das jetzt ernst, was da grad aus meinem Mund rauskommt? Und davon ist tatsächlich auch einiges an Sprach-Material im Stück gelandet, ganz unlyrisch und nüchtern, das musste ich gar nicht viel bearbeiten. Und das war für mich innerhalb der Dynamik des Stückes auch wichtig als formaler Kontrast. Es werden ja im Stück verschiedene Zeitebenen erzählt, einerseits die 1980er und der Beginn der HIV-Pandemie und dann aber auch ein pandemisches Heute, das von Corona geprägt ist. Und irgendwann fallen diese beiden Zeitebenen dann ineinander, sprachlich und formal.

Patient Zero 1 verschränkt mit der dir eigenen, sprachlichen Konsequenz prosaische Text- und Erzählflächen unvermittelt mit gewitzten Dialogen. Wie würdest Du selbst deinen Sprachkosmos beschreiben?

Marcus Peter Tesch: Ich muss ganz ehrlich sagen: Ich habe über drei Jahre an dem Text gearbeitet, ich glaub er ist mir immer noch viel zu nah als dass ich ihn hier seriös beschreiben könnte … Es ist ein Text, der in jedem Moment eine Herausforderung für die Schauspieler:innen ist, ein bisschen wie Hochleistungssport, der unter den Akteur:innen absolute Solidarität einfordert. Die müssen durch den Textberg miteinander durch, die dürfen sich keine Minute alleine lassen. Ein irgendwie ziemlich unmöglicher Text, eine Frechheit eigentlich. Vielleicht eher ein „Sprach-Score“ statt einer psychologischen Notation für die Bühne, denn es gibt ja keine Figuren darin. Und zugleich gibt es sie eben doch: Figuren, die anzitiert werden oder sich selber bruchstückhaft selbstvergewissernd nacherzählen. Und dann ist es auch ein zitternd-nervöser Text, mit einer Sprache die immer wieder scheitert, hinfällt, aufsteht und euphorisch weitermacht. Bis sie einfach nicht mehr kann. Weil da jemand unbedingt etwas erzählen will, wofür er keine Worte hat, wofür die Sprache einfach nicht reicht: Den Tod. Gegen den muss man ja ununterbrochen anschreiben. Ich glaube also, das kann vielleicht ganz witzig werden. Und wahrscheinlich auch ein bisschen traurig. Wenn ich pathetisch wäre, würde ich sagen: Es ist ein wütender, kämpferischer, lauter und lebenslustiger Text, der sich genauso aus Netflix-Serien speist wie aus Büchern von Susan Sontag, aus Kneipengesprächen wie aus Drag-Shows und Parties in verrauchten Wohnzimmern.

Irgendwie auch immer bilingual und irgendwo zwischen Covid und AIDS. Ein Text, der gegen das Unbezwingbare anarbeitet und immer mehr zu einer Ruhe kommt, weil da plötzlich etwas anderes entsteht in dieser Überanstrengung und lebensbejahenden Panik. Eine verdiente Stille vielleicht. Aber da ich gar nicht so pathetisch sein will, würde ich ihn eher als eine Form einer Sprachsuche benennen. Oder besser noch: Eine Schnitzeljagd. Das Publikum kann live dabei sein, wie sich jemand verläuft, aufs Maul fällt und schließlich findet, was er nie gesucht hat.

Welche agency verfolgst Du mit den Themen deines Stückes?

Marcus Peter Tesch: In seiner ganzen Form wendet sich das Stück gegen jegliche feste Vorstellung von so etwas wie Identität, verstanden als eine Einheit und Übereinstimmung mit sich selbst, mit dem, als was man sich definiert oder von einer Gesellschaft definiert wird. Ident sein zu müssen mit sich oder seinem eigenen Narrativ, das ist der Horror. Ich plädiere für einen Zustand des Uneins-Seins. Dafür, sich radikal und aktiv immer wieder allen äußeren Zuschreibungen und eigenen Überzeugungen zu entziehen und sich nicht festschreiben zu lassen auf eine Rolle, Funktion oder Figur. Du bist dies und das, weil du so und so lebst. Das ist Bullshit. Gibt es etwas Intimeres als die Erfahrung einer Krankheit?

Ich denke, nicht … Und gleichzeitig gibt es nichts, was mehr über uns als Gesellschaft aussagt, als der Umgang mit Krankheit. HIV betrifft uns alle – genau wie Corona – egal ob du schwul bist oder hetero, egal ob du in Berlin lebst oder im Hochtaunuskreis, ob du vier Kinder hast oder dich jede Nacht rumtreibst, oder beides. Solange es HIV gibt, sind wir alle positiv. Und deshalb ist die Geschichte der HIV-Pandemie die Geschichte von uns allen, nicht nur die Geschichte der Körper, die damit viel zu lange assoziiert wurden, beispielsweise die der LGBTIQ+-Community oder die der Drogenabhängigen oder der Sexarbeiter:innen. Und es ist auch keine Geschichte, die in der Vergangenheit spielt. Sie lebt latent in unseren Körpern bis heute fort, in unserm Sexverhalten – entgegen allen Wissens, entgegen aller Aufklärung. Aber ich will jetzt auch nicht zu moralisch oder pessimistisch klingen. Natürlich gibt es heute ein ganz anderes Bewusstsein darüber, was es heißt HIV-positiv zu sein als noch vor ein paar Jahren. Eine Pille am Tag und du hast eine ganz normale Lebenserwartung, ein ganz normales Leben, bist „unter der Nachweisgrenze“ und kannst also auch ohne Ansteckungsrisiko ungeschützt Sex haben oder Kinder kriegen. Wenn du das willst. Aber, gleichzeitig: Wer HIV-positiv ist und zum Zahnarzt geht, erlebt da was anderes, als jemand mit einer z.B. Schilddrüsenunterfunktion.

Marcus Peter Tesch (*1989) beschäftigt sich mit der Neuerzählung und Sichtbarmachung queerer Geschichte(n) und setzt sich kritisch mit Klassismus auseinander. Er war Dramaturgieassistent und freier Dramaturg an der Berliner Schaubühne. Inszenierungen seiner Texte u. a. am Deutschen Theater, Berlin, dem Theater Rampe, Stuttgart und der Berliner Schaubühne. Leitung des internationalen Writers' Room beim Berliner Theatertreffen 2021 und 2022. 2017 Nominierung für den Retzhofer Dramapreis, seit 2020 Stipendiat des UniT Schreiblehrgangs FORUM Text. 2021 Auszeichnung seines Textes Versuch, ein Stück über die Nibelungen (nicht) zu schreiben mit dem Preis des Autorenwettbewerbs der Nibelungen-Festspiele 2022.

Marcus Peter Tesch im Gespräch mit Katja Prussas (Dramaturgie)

Patient Zero 1 (UA)

Schauspiel