Stef Lernous, Regisseur und Leiter des belgischen Theaterensembles Abattoir Fermé, im Gespräch mit Dramaturgin Katja Prussas.

Hier geht es zum Video-Interview in Flämisch und Englisch mit deutschen Untertiteln.

Katja Prussas: Wie hast du dich Kafkas Erzählung über die unheimliche Verwandlung des Handlungsreisenden Gregor Samsa in ein Insekt genähert?

Stef Lernous: Wie nähert man sich einem Stück wie Kafkas „Die Verwandlung“? Das ist natürlich erstmal nicht offensichtlich. Es ist ein weltberühmtes Stück renommierter Literatur.
Ich denke das Wichtigste an der Geschichte ist, dass Gregor sich nicht verändert. Klar, physisch tut er das schon, aber dabei bleibt er immer Gregor.
Wenn wir also über eine Verwandlung sprechen, geht es dabei viel mehr um seine Umwelt und um sein Äußeres. Wenn sich die Welt und alle äußeren Begebenheiten einer Person ändern, wie verändert das diese? Wird man zum Käfer oder bleibt man Mensch?
Das ist eine Möglichkeit, sich dem Stück zu nähern. Die zweite Variante: Ich bin ein großer Fan von Traum-Dramaturgie und es ist so eine traumhaft albtraumhafte Erzählung, die ich auf die Bühne bringen wollte. Das sind also die zwei Wege, wie man sich der Erzählung des Stückes annehmen kann.

KP: Konntet ihr an diesem rätselhaften und vielgedeuteten Klassiker neue Seiten der Figur Gregor Samsa und seiner Familie entdecken?

SL: Das Bild, das ich nach dem erneuten Lesen von Gregor und seiner Familie habe, passt so gar nicht mehr zu meiner Erinnerung an diese Charaktere. Ich finde, Gregor hat etwas von einem Schleimer – ein liebenswürdiger und lustiger zwar, aber trotzdem ein Schleimer. Er hat etwas von Joseph K. Manchmal ein bisschen arrogant, aber trotzdem kann man sich in ihn hineinversetzten.
Die Familie aber ist viel schlimmer als ich sie in Erinnerung hatte: Der Vater ist faul, die Mutter hängt herum und die Schwester ist ein schrecklicher Mensch. Sie trägt hübsche Kleider und liegt den ganzen Tag im Bett, mehr auch nicht. Ja, und das ist es, was man während dem Lesen so entdeckt.

KP: Die Welt der Insekten ist faszinierend. Worin liegt deine Faszination - auch für die Bühne?

SL: Ich fand Käfer oder Insekten – so seltsame kleine Kreaturen – aus mehreren Gründen schon immer interessant: Erstens leben sie unter Steinen, da wo es dunkel und feucht und auch so fernab unserer Realität ist. Als sollten wir sie nicht sehen.
Aber auch dieser Mikrokosmos von Insekten gefällt mir. Auf eine Art, wenn ich mir das Stück anschaue, sehe ich überall nur Insekten. Nicht nur in Gregor, sondern auch in seiner Familie. Sie alle sind irgendwie Käfer in einem Biotop, mit Gregor in der Mitte, in seinem eigenen „Minibiotop“.
Und die Welt soll nicht unbedingt all das sehen, was wir sehen. Diese Idee gefällt mir.

KP: Wie muss man sich die Kostüme vorstellen in diesem Kontext?

SL: Ich habe eine große Leidenschaft für Kostüme, aber ich bin kein Kostümdesigner – wenn ihr die Kostüme seht, wisst ihr was ich meine (lacht).
Aber so wie ich das sehe, sind es die Schauspieler:innen, die das Stück spielen müssen. Ich kann nur Vorschläge zu den Texten, Handlungen und Kostümen machen. Am Ende sind sie diejenigen, die alles umsetzen müssen. Sie müssen sagen, ob sie ihren Text oder ihr Kostüm mögen, und wenn sie es nicht tun, ja dann muss es halt anders gehen. Das ist immer irgendwie eine gemeinsame Entscheidung.
Wenn es dann um die Auswahl der Kostüme geht, beginnen wir – also ich, die Darsteller:innen und Isabell Heinke aus der Ausstattung – mit der Suche im Haus, wir schauen, welche Kostüme es schon auf Lager gibt. Da fangen wir an. Wir fangen mit schwarzen Outfits an und fügen dann etwas Spielerisches oder Buntes hinzu.
Da werden einfach Sachen ausprobiert, und wenn es uns allen gefällt, behalten wir es, wenn nicht, ändern wir es. So gehen wir das an. Es ist ein ziemlich kostengünstiger Weg, Leute einzukleiden, denn wir sind bei unseren Kostümen bewusst ökonomisch.

KP: Du begegnest dem Kasseler Ensemble in den Proben zum ersten Mal: Gibt es Gemeinsamkeiten oder auch Unterschiede in der Probenarbeit zur Arbeit deiner Kompanie Abattoire Fermé? Und was bedeutet dir Freiheit im Probieren?

SL: Mir macht es sehr viel Spaß hier zu proben, es gibt eine tolle Probenbühne, auf der man Sachen einfach ausprobieren kann. Das Ensemble mag ich auch sehr – auf jeden Fall alle, die ich schon getroffen habe. Sie sind alle sehr eifrig und hungrig danach, etwas zu tun. Sie arbeiten gerne und haben Energie, das mag ich.
Zuhause habe ich das Privileg, mit den gleichen Menschen seit über 20 Jahren zusammenzuarbeiten – aber hier ist es toll, neue Leute zu treffen, die selber Lust haben, Neues auszuprobieren, anstatt einfach nur einer von vielen Regisseuren zu sein, denen sie begegnen. Sie scheinen ernsthaft an dem interessiert, was wir gemeinsam aufbauen.
Ich glaube, ein sehr großer Unterschied zwischen der Arbeit in meiner Heimat und der an deutschen Theatern im Allgemeinen ist, dass es in Deutschland viel mehr Regeln gibt, die man befolgen muss. Und ich bin mir sicher, dass es all diese Regeln aus einem guten Grund gibt, aber da wo ich herkomme, an meinem Theater, da ist es einfacher z.B. Flüssigkeiten oder Dreck auf die Bühne zu bringen, auch ganz spontan.
In Deutschland gibt es vorher so viele Schritte, die erstmal geklärt werden müssen, und man muss dafür sorgen, dass alle früh genug Bescheid wissen.
Außerdem: Meine Schauspieler:innen machen selber sauber, wir haben niemanden der für sie sauber macht! (lacht).
Aber trotzdem habe ich sehr großen Spaß daran, hier zu arbeiten. Ich glaube, es liegt hauptsächlich an der Freiheit, das zu machen was ich machen möchte, die mir hier gegeben wird. Das ist, glaube ich, sehr wichtig.
Es war schon früher wichtig, aber jetzt ist es wichtiger denn je, dass man frei ist zu machen was immer man will, solange man damit nicht absichtlich jemanden verletzt.
Aber manchmal verletzt man Menschen oder ihnen gefällt nicht, was man macht, aber es ist immer eine Diskussion wert. Aber ja, es tut gut, tun zu können, was man will. Das gibt mir Sicherheit.

KP: Stef, eine Produktion hat Premiere, was machst du als Regisseur bei der Premiere?

SL: Oh, bei Premieren, ja da habe ich immer sehr gemischte Gefühle. Ich bin immer im Theater, im Raum selbst. Ich fände es nicht gut, wenn die Schauspieler:innen ein Stück aufführen müssten und ich wäre da nicht für sie da.
Aber ich muss euch was gestehen: Manchmal, wenn eine Aufführung schiefläuft, dann mische ich mich ein. Ich rufe dann aus dem Publikum oder gehe sogar auf die Bühne, um den Fehler zu korrigieren. Es passiert wirklich nicht oft, aber wenn etwas schief läuft muss ich einfach eingreifen.
Was ich hasse ist, wenn ich mich am Ende verbeugen muss. Ich weiß, dass das eigentlich von mir erwartet wird, aber das mag ich einfach nicht. Vor so vielen Leuten bin ich schüchtern, also drücke ich mich oft vor der Verbeugung.
Also: Ich bin da – ein guter Regisseur. Ich fühle mit den Darsteller:innen – ein guter Regisseur. Ich verbeuge mich nicht – ein nicht ganz so guter Regisseur, ich weiß nicht (lacht).

Stef Lernous im Gespräch

Weitere News

Auch wenn es dunkel ist

5 Jahre Hanau